Wie im Knast – Wenn Förderschulen ihre Schüler nicht loslassen
Elf Jahre lang ging Nenad M. auf eine Förderschule in Köln. Er galt als geistig behindert. Jetzt will der 19-Jährige das Land NRW verklagen. Er will beweisen, dass die Diagnose der Experten falsch gewesen ist. Es wäre die erste Klage dieser Art in Deutschland.
Als Nenad M. eingeschult wurde, konnte er kein Deutsch. Er sprach nur Romanes, die Sprache der Roma. So wie seine Eltern, die vor Krieg und Elend aus Serbien nach Deutschland geflohen waren. Die Lehrer beauftragten Sonderpädagogen, den verängstigten Jungen, der in der Klasse kein Wort sagte, zu begutachten. Das Ergebnis: Nenad habe einen IQ von 59. Damit galt Nenad als geistig behindert. Er kam auf eine Förderschule für geistige Entwicklung.
„Ich wusste immer, dass ich da nicht hingehöre“, sagt Nenad. Er habe auf der Schule keine Freunde gehabt und sich ständig unterfordert gefühlt. Doch niemand sah das. Weder seine Lehrer noch seine Familie.
Erst Kurt Holl, ein Kölner Pädagoge und Aktivist, der sich seit Jahrzehnten für die Rechte der Roma einsetzt, ist Nenads Rettung. „Ich habe ihm gesagt, dass ich die Schule wechseln und einen Schulabschluss machen will“, erinnert sich Nenad. Mit Hilfe des Kölner Elternvereins mittendrin holte Kurt Holl Nenad aus der Förderschule raus und meldete ihn kurzerhand auf einem Kölner Berufskolleg an, wo Nenad, der vermeintlich geistig Behinderte, heute einer der Besten in seiner Klasse ist.
Auch Marcel L. aus Duisburg hatte Handicaps, als er eingeschult wurde. Er kam aus schwierigen sozialen Verhältnissen und hatte einen schweren Sprachfehler. So kam er zunächst auf eine Förderschule für schwer Erziehbare. Doch auch er schaffte es auf eine Regelschule – weil er einen Lehrer hatte, der sein Potential erkannte. Der ehemalige Förderschüler bereitet sich heute auf einer Gesamtschule auf das Abitur vor.
Wie viele Schüler aber schaffen den Sprung von der Förderschule ins Regelschul-System? Ist Marcel ein Einzelfall? Verlässliche Statistiken hierzu gibt es nicht.
Marcel gibt heute anderen Förderschülern Mut. Sie sollen an sich glauben, sich behaupten und für einen Schulwechsel kämpfen. Nenad will das Land NRW auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verklagen, weil ihm Zeit gestohlen und Bildung vorenthalten wurde. Doch er braucht ihn schwarz auf weiß: den Beweis, dass das Schulsystem einen völlig normal begabten Jungen auf eine Förderschule für geistige Entwicklung geschickt hat. Konnten hochqualifizierte Experten sich so irren? Nenad muss einen neuen IQ-Test machen, um zu beweisen, dass er normal intelligent ist. Davor fürchtet er sich. Was, wenn die Lehrer damals doch Recht hatten? Was, wenn er doch geistig behindert ist?
Ein Film von Cornelia Uebel und Gülseli Baur